Die Norm FM4910 – Alles, was Sie wissen müssen!
Die Norm FM4910 gewinnt stetig an Bekanntheit – aus gutem Grund! Anfang 2021 gab es einen schweren Tiefschlag für die Automobilindustrie: Ein Brand im Renesas-Chipwerk sorgt für monatelange Lieferprobleme. Derartige Produktionsausfälle verursachen immense Kosten. Selbst unter „Normalbedingungen“ können kleinste Verunreinigungen, die durch kleine Brände und geringste Rauchentwicklung im Fertigungsprozess von Chips erhebliche – teilweise wochenlange- Verzögerungen hervorrufen.
Um solche Vorfälle zu verhindern bzw. die Folgen daraus zu mindern, entstehen ständig neue Richtlinien, Normen und Zertifizierungen. Eine Norm, die speziell an dieser Stelle an Bedeutung gewinnt, ist die technische Norm FM 4910. Alles, was Sie als Unternehmen über diese Norm wissen müssen, haben wir in diesewm Artikel festgehalten.
Einleitung
FM 4910 ist ein Standard für die Prüfung der Entflammbarkeit von Reinraummaterialien. Die Norm ist ursprünglich für das Anwendungsgebiet der Halbleiterindustrie entstanden. In der Folge wurde sie jedoch auf verschiedenste Anwendungsgebiete ausgeweitet und findet überall dort Bedeutung, wo unter strengen Reinheitsgeboten agiert wird.
Die Norm bewertet die Fähigkeit von Materialien – und damit auch von Systemkomponenten – die Ausbreitung von Feuer und Rauchschäden bei einem Brand zu begrenzen. In Branchen, die besonders empfindlich auf Rauch und Verunreinigungen reagieren, kann selbst ein kleiner Brand, der beispielsweise durch Kunststoffe verursacht wird, eine verheerende Kontamination bedeuten. Das führt wiederum zu großen, finanziellen Verlusten. Typische Branchen sind die Lebensmittelindustrie, die Halbleiterindustrie oder auch die Pharmazeutik.
Durch die unzähligen Vorteile werden Kunststoffe in den verschiedensten Bereichen verwendet. Das reicht bis hin zum Bauwesen. Oftmals wird jedoch vergessen, dass Kunststoffe durchaus eine nicht zu vernachlässigende Brandgefahr aufweisen. Das oberste Mittel zur Vorbeugung einer Brandausweitung sind heutzutage Sprinkleranklagen, welche zum Schutz installiert werden. Diese können jedoch oftmals nicht ausreichend gegenwirken.
Für solche Situationen gibt es FM 4910 zertifizierte Materialien. Werkstoffe nach FM 4910 weisen zwei vorteilhafte Eigenschaften auf: Sie haben im Brandfall eine geringe Flammausbreitung und eine geringe bis keine Kontaminierung durch Rauch.
Wer steckt hinter dem Standard? Was ist die FM Global
Die Norm FM 4910 wurde von FM Global (FM = Factory Mutual), eine der weltgrößten Versicherungsgesellschaften für Industrieanlagen eingeführt. Hinter der Marke FM Global steckt das amerikanische Unternehmen FM Insurance Company Limited.
Das Geschäftsmodell des Industriesachversicherungsunternehmens beruht auf der Eigentumssicherung durch Risikoanalyse und Risikominderung. Um dieses Ziel zu erreichen, bieten FM Global sowohl Risikomanagement, Werkstoffforschung, Werkstoffprüfung als auch Zertifizierungen an, vor allem im Bereich der Absicherung gegen Naturkatastrophen und im Brandschutz. Statt lediglich zu versichern dient also auch die Risikominimierung durch verschiedene Angebote zum Tätigkeitsbereich der Versicherung. Aus dieser Idee heraus entstehen Normen wie die Norm FM 4910.
Was gibt die Norm FM-4910 vor?
Mit dieser Norm soll nachgewiesen werden, dass ein Produkt bestimmte Mindestanforderungen an Leistung, Sicherheit und Qualität erfüllt. Darauf basierend wird die Eignung für eine Endanwendung bewertet. Die FM 4910 bewertet die Fähigkeiten von Werkstoffen und damit auch von Systemkomponenten, die Brandausbreitung sowie die Rauchschäden bei einem Brand in Reinraumumgebungen zu begrenzen.
Die Werkstoffe werden hierbei durch NFPA287 Tests anhand von zwei Kriterien geprüft und bewertet:
- Flammausbreitung (FPI: Fire Propagation Index)
- Rauchgasdichte/Rauchentwicklung (SDI: Smoke Density Index)
Die FPI (m/s)/(kW/m) wird als Kriterium für die Begrenzung der Brandausbreitung über die Zündzone hinaus verwendet. Für Werkstoffe, die für die Verwendung in Reinräumen bestimmt sind, wurde ein Wert ≤ 6 festgelegt.
Die SDI (m/s)(g/g)/(kW/m) wird als Kriterium für die Begrenzung der Rauchentwicklung bei sich nicht ausbreitenden Bränden jenseits der Zündzone verwendet. Werkstoffe, welche für Reinräume bestimmt sind, benötigen einen Wert von ≤ 0,40.
Hersteller können dieses Reinraumprotokoll sowie die Testverfahren anwenden, um Kunststoffmaterialien zu entwickeln, welche besonders gute flammenhemmende Eigenschaften aufweisen, also wenig oder gar keinen Rauch freisetzen und wenig oder gar keine korrosiven Nebenprodukte erzeugen. Werkstoffe, die den hohen Anforderungen des Reinraumprotokolls gerecht werden, können anschließend im Approval Guide, einer Veröffentlichung von FM Approvals, aufgeführt werden. Die Werkstoffe sind dadurch nun FM 4910 zertifiziert.
Als langjähriger Partner u.a. der MedTech- und Maschinenbau-Branche verarbeiten wir bei der Hans Keim Kunststoffe GmbH zertifizierte Kunststoffe der Norm FM 4910. Die genauen Testspezifikationen können Sie hier einsehen.
Welche Bedingungen gibt es?
Alle Anforderungen der Norm müssen erfüllt sein, um eine zulässige Zertifizierung zu erreichen. Darüber hinaus müssen FM-zugelassene Materialien mit dem Zulassungszeichen auf der Verpackung oder auf dem Material selbst gekennzeichnet sein. Werkstoffe ohne entsprechende Kennzeichnung sind nicht FM-zugelassen.
Welche Anwendungsbereiche sind typisch?
Eingangs haben wir schon einige Anwendungsbereiche angeschnitten. Grundsätzlich ist die Liste jedoch sehr lange, da FM 4910 zertifizierte Werkstoffe überall dort zum Einsatz kommen können, wo hiesige Fertigungs- und Produktionsprozesse hohe Anforderungen an die Reinheit der Umgebung stellen. Damit sind Reinräume natürlich ein prädestiniertes Einsatzgebiet. Aber auch diverse Fertigungsprozesse in unterschiedlichsten, sensiblen Anwendungsbereichen können durch den Gebrauch von FM 4910 Werkstoffen profitieren. Darunter:
- Halbleiterfertigung
- Reinräume
- Pharmazie
- Lebensmittelherstellung
- Healthcare
- Medizinische Forschung
- Luft- und Raumfahrt
Durch die vielseitigen Vorteile erweitert sich das Einsatzspektrum dieser Werkstoffe sukzessive. Ganz konkret können FM 4910-zertifizierte Werkstoffe z.B. auch bei Isolatoren im Schaltschrankbau, bei Akku-Verkleidungen im Automotive-Bereich und allgemein in sensiblen Bereichen der Gebäudetechnik eingesetzt werden. Das sind jedoch nur ein paar wenige Beispiele.
Welche Vorteile ergeben sich?
Mit ihrem definierten Brandverhalten reduzieren nach FM 4910 zertifizierte Werkstoffe im Brandfall nicht nur eventuelle Kontaminationen und tragen so zur Vermeidung von Ausfällen oder Stillständen in Reinräumen bei. Aufgrund ihrer ausgezeichneten Flammwidrigkeit und chemischen Beständigkeit unterstützen diese auch die Sicherheit von Mitarbeitern und retten so letztendlich auch Leben.
Charakteristisch für Reinräume sind hohe Baukosten und ein hoher Wert des Inventars. Die Erzeugnisse in Reinraumumgebungen und die nötigen Geräte bzw. Maschinen sind in der Regel äußerst wertvoll. Daher können insbesondere in Reinräumen bereits kleine Verunreinigungen erhebliche Schäden verursachen.
Die Folgekosten durch Verunreinigungen nach einem Brandfall im Reinraum werden durch den Gebrauch von zertifizierten Werkstoffen dementsprechend reduziert. Zusätzlich reduzieren sich oftmals die Versicherungsbeiträge von beispielsweise Halbleiterherstellern und Reinraumbetreibern, wenn ein Einsatz von FM 4910 Werkstoffen vorliegt.
Ein weiterer Pluspunkt: In der Vergangenheit mussten Reinräume durch Sprinkleranlagen oder noch teurere Spezialbrandschutzsysteme geschützt werden. Bis sich jedoch ein Brand im Reinraum ausbreitet und eine Sprinkleranlage oder ein spezielles Brandschutzsystem auslöst, kann der Schaden bereits entstanden sein. Werden bei der Fertigung jedoch Materialien verwendet, die weniger entflammbar sind (beispielsweise FM-zugelassene Decken- und/ oder Wandplatten in Übereinstimmung mit der FM-Zulassungsliste), ist ein Sprinklerschutz ggf. nicht mehr erforderlich. FM 4910 Werkstoffe können in bestimmten Fällen eine zusätzliche und teure Sprinkleranlage dadurch ersetzen.
So benötigen FM-zugelassene FRP-Paneele, die auf einer NC-Rückseite installiert sind, sowie FM-zugelassene PVC-Platten die in Übereinstimmung mit den Zulassungsbeschränkungen verlegt und verwendet werden, als auch FM-zugelassene PVC-Platten, die auf einer nicht brennbaren Unterlage installiert sind und in Übereinstimmung mit den Zulassungsbeschränkungen installiert sind, unter Umständen keinen Sprinklerschutz.
FM 4910 bei Kunststoffen
Als Kunststoffverarbeiter kennen wir uns hinsichtlich der Norm FM4910 vorwiegend im Bereich der Kunststoffe sehr gut aus. Grundsätzlich gilt: Kunststoffplatten, ob feuerhemmend behandelt oder nicht, sind brennbar. Einige Kunststoffe neigen dazu, zu verkohlen, während andere, wie bspw. Polystyrol, schmelzen und eine entzündliche Flüssigkeit bilden.
Sowohl kleine als auch große Brandversuche, welche von FM Global durchgeführt wurden, zeigen, dass nicht FM-zugelassene Kunststoff Werkstoffe sich leicht entzünden und schnell verbrennen, was zu starken Flammen und hohen Deckentemperaturen führen kann. Und dies selbst wenn automatische Sprinkleranlagen eingesetzt werden.
Thermische Barrieren und/oder Metallummantelungen können bei Anwendungen mit Sprinkleranlagen die Entzündung um 10 bis 15 Minuten verzögern. Hierdurch hat die Sprinkleranlage Zeit, das Feuer zu kontrollieren.
FM 4910-Kunststoffe begrenzen die Brandausbreitung, Rauchschäden und Schäden durch korrosive Nebenprodukte des Feuers. Greifen Sie an kritischen Stellen deshalb immer auf FM-zertifizierte Kunststoffe zurück. Das sind gängige FM 4910 zertifizierte Kunststoffe:
- CPVC
- E-CTFE
- EPS
- PFA-M
- PP
- PP-R
- PVC-C
- PVC-U
- PVDF
Das ist das Verhalten von Kunststoffen im Brandfall:
Polyurethan
Versuche von FM Global haben gezeigt, dass die Leistung von geschäumtem Kunststoff unter tatsächlichen Brandbedingungen durch die Verwendung von feuerhemmenden Zusatzstoffen nicht wesentlich beeinflusst wird.
PU ist ein brennbares Material, das unter Brandbedingungen bestimmte Eigenschaften aufweist, die einen Vergleich mit gewöhnlichen brennbaren Materialien sehr unzuverlässig macht. Es ist davon auszugehen, dass Kunststoffe, die in Tests mit Zündquellen im Labor stark brennen, bei einem tatsächlichen Brand eine große Gefahr darstellen.
Wenn PU einem Feuer oder ausreichender Hitze ausgesetzt wird, zersetzt es sich bei etwa 230°C. Die Entzündung erfolgt zwischen 315°C und 370°C. Bei der Entzündung entsteht dichter, beißender Rauch, und die Flammen können schnell über die Oberfläche des Materials schlagen. Die Verwendung von inerten Verkleidungen, wie Stahl oder Aluminium, in FM-zugelassenen PU-isolierten Sandwichpaneelen ermöglicht es dem Schaumkern zu verkohlen, wenn er einer Zündquelle ausgesetzt wird. Diese Verkohlung trägt zum Schutz des verbleibenden Schaums bei und hält die Brandausbreitung innerhalb akzeptabler Grenzen.
EPS
EPS schmilzt bei Temperaturen unter 205°C und bildet eine zündfähige Flüssigkeit. Der Höchstwert der Zersetzung und Verflüchtigung von Polystyrol liegt bei 364°C. Bei dieser Temperatur führt die Freisetzung der Dämpfe zu einer schnellen Flammenausbreitung auf der Oberfläche. Automatische Sprinkleranlagen sind nicht immer in der Lage, das Feuer auf einen kleinen Bereich zu begrenzen. EPS neigt nicht dazu, zu schwelen oder zu verkohlen.
EPS hat einen Wärmeinhalt im Bereich von 37-42.000 kJ/kg. Da EPS schmilzt und eine zündfähige Flüssigkeit bildet, steht die Menge an Brennstoff, die einem Gebäudebrand durch EPS-Produkte zur Verfügung steht, in direktem Zusammenhang mit der Menge des vorhandenen EPS.
EPS kann durch eine offene Flamme entzündet werden und brennt ebenfalls durch eine von anderen Brennstoffen erzeugte Flamme. Es neigt dazu, vor der Entzündung von Wärmequellen zu schrumpfen. Um das Brennen aufrechtzuerhalten, muss die Wärmequelle entweder ausreichend groß sein oder dem schrumpfenden Material folgen. Aus diesem Grund kann der Versuch, EPS mit einem stationären Streichholz oder einem Bunsenbrenner zu entzünden, nicht gelingen. Aufgrund dieses Phänomens kann EPS mit der ASTM E84-Testmethode relativ niedrige Werte für die Flammenausbreitung erzielen. Bei einem größeren Brand reicht die Wärmequelle jedoch aus, um ein intensives Brennen aufrechtzuerhalten.
Bei der Verbrennung von EPS entsteht ein sehr dichter schwarzer Rauch, der ölige, rußige Partikel enthält. Daher kann ein relativ kleiner Brand von EPS in Lebensmittellagern, Gefriertruhen oder Bereichen mit elektronischen Geräten leicht zu einer Kontaminierung des gesamten Bereichs führen.
Wie bei PU haben Additive keinen wesentlichen Einfluss auf die Brenneigenschaften, sie können jedoch die Entzündung verzögern. Bei den FM-zugelassenen EPS-Umhüllungsprodukten werden jedoch spezielle Rezepturen und eine begrenzte Produktdichte und -dicke verwendet, um eine geringere Gefahr zu erzielen. Die Entzündung dieser Produkte wird ausreichend verzögert, so dass der Schaum schnell von der Wärmequelle weg schrumpft, ohne dass sich die Flammen ausbreiten. Dadurch haben die in der FM-Zulassung geforderten Sprinkleranlagen genügend Zeit, um zu zünden und das Feuer unter Kontrolle zu bringen.
Weitere Hinweise von der FM Global: Da es keine FM-zugelassenen Sandwichelemente mit EPS-Kern gibt, dürfen keine Sandwichelemente mit EPS-Kern verwendet werden. Außerdem gibt es auch keine FM-zugelassenen, sprühbaren PU-Dämmprodukte für die Anwendung in Innenräumen. Weiterhin wird empfohlen, kein PMMA (Acrylglas) oder nicht-FR-behandeltes FRP für Dachfenster und Wandlichtbänder zu verwenden. Hier sollten eher FM-zugelassene oder weniger brennbare Kunststoffmaterialien eingesetzt werden. Derzeit sind die FM4910-Kunststoffe auf starre Plattenmaterialien beschränkt; flexible FM4910-Kunststoffe gibt es aktuell nicht.
FM 4910 bei Verbundwerkstoffen
Da es keine FM-zugelassenen Metallverbundplatten (MCM und ACM) gibt, dürfen keine Metallverbundplatten für eine Zertifizierung verwendet werden.
Fazit und Empfehlungen
Der Einsatz von FM4910-zertifizierten Kunststoffen bietet eine ganze Reihe von Vorteilen. Insbesondere, wenn Sie in Anwendungsgebieten mit hohen Anforderungen an Reinheit bzw. schwerwiegenden Folgen durch geringste Kontamination arbeiten, sollten Sie sich eingehend mit dieser Thematik beschäftigen. Im Fall der Fälle beugen Sie größeren Sach- und auch Personenschäden bestmöglich vor und profitieren obendrein in der Regel von vergünstigten Versicherungsprämien.
Wenn Sie alle Bestimmungen noch einmal ganz detailliert durchgehen möchten, finden Sie über folgenden Link alle Datenblätter der FM Global. Sie können diese einsehen und herunterladen. Im Gegenzug müssen Sie jedoch Ihre E-Mail Adresse angeben.
Was können wir für Sie tun?
Wir sind eines der wenigen kunststoffverarbeitenden Unternehmen, die aktiv mit FM 4910-zertifizierten Kunststoffen arbeiten. Gerne beraten wir Sie bei der Auswahl der richtigen Werkstoffe und des richtigen Verfahrens für Ihren Anwendungsfall. Weitere Informationen zu unseren Leistungen als Kunststoffverarbeiter im Zusammenhang mit der Norm FM4910 finden Sie außerdem auf dieser Seite.
Buchen Sie sich gerne hier einen kostenfreien Gesprächstermin bei unserem Fachberater Markus Schreiber für einen ersten, tieferen Einblick in das Thema – speziell für Ihren Fall.
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